Skip to main content

Erich Lessing - Fotograf

 

Unter den 10.000 Bildern, die Erich Lessing in seiner Karriere geschaffen hat, ist auch die für österreichische Identität ikonische Aufnahme der Unterzeichnung des Staatsvertrages, am 15. Mai 1955. Damals stand der österreichische Fotograf in der jubelnden Menge unter dem Balkon des Schlosses Belvedere, von dem Leopold Figl den Staatsvertrag der jubelnden Bevölkerung zeigte. Das Bild steht für den Anfang eines unabhängigen Österreichs. Erich Lessing hat damit ein großes Stück österreichische Zeitgeschichte festgehalten.

Der Fotograf mit jüdischen Wurzeln wurde am 13. Juli 1923 in Wien geboren und wuchs im 1924/1925 fertig gestellten Gemeindebau Ludo-Hartmann-Hof im 8. Wiener Gemeindebezirk auf. Sein Vater, der bereits früh starb, war Zahnarzt und seine Mutter Konzertpianistin. Mit der Machtübernahme der Nazis 1938 gelang es Erich, noch 1939 nach Palästina zu flüchten. Während er das Studium der Radiotechnik in Haifa begann und sich sein Leben unter anderem als Taxifahrer und Karpfenzüchter in einem Kibbuz finanzierte, wurde seine Familie verschleppt und später in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten in Auschwitz und Theresienstadt ermordet.

Die Fotografie war schon früh sein Hobby. Seinen ersten Fotoapparat bekam er mit 13 Jahren. Das Hobby wurde schließlich zum Beruf. Dieser brachte ihn zuerst zur britischen Armee und dann 1947 zurück nach Österreich, wo er seine Frau, die Wienerin Gertraud (Traudl) Wiglitzky kennenlernte, die er im gleichen Jahr heiratete. Die Ehe bestand bis zu ihrem Tod im Jahre 2016. Traudl war Journalistin bei der Agentur Associated Press. Über sie kam Erich Lessing zunächst als Fotoreporter zur Associated Press, bevor er 1951 Mitglied bei Magnum Photos wurde. Seine Haupttätigkeit lag in Osteuropa. Der ungarische Volksaufstand 1956 oder Portraits von berühmten Persönlichkeiten, wie Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Bruno Kreisky und Herbert von Karajan gehören zu seinen bekannten Motiven. Aufgrund seiner einfühlsamen Street-Photography aus dem Wien der Nachkriegszeit gilt er als „der“ Fotograf des österreichischen Zeitgeschehens. Ebenso bekannt sind seine Reportagefotos von Filmen wie „The Sound of Music“, „Alexis Sorbas“ und die Literaturverfilmung „Moby Dick“ von John Huston. Über 70 erfolgreiche Bildbände stellte Lessing zusammen, gespeist aus seinem Archiv von zehntausenden Fotografien.

Das Interesse an den Bildern Lessings stieg vor allem in den 1990er Jahren. Ausstellungen im Historischen Museum Wien, in der Neuen Galerie der Stadt Linz, im Palais Palffy, im Leopoldmuseum, sowie im Jüdischen Museum in Wien waren die Folge. Im Jahr 2013 überließ er mehr als 60.000 Farbfotografien aus seinem Bestand dem Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Erich Lessing starb am 29. August 2018 in Wien.

Seine Tochter Hannah Lessing ist seit 1995 Generalsekretärin des Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus.

 

Glückliche Kindheit - Artikel/ Beitrag zu Erich Lessing

Kündigungsgrund Nichtarier - Artikel/Beitrag zu Kündigungsgrund "Nichtarier"

 

#02 – Das Schweigen brechen – Kündigungsgrund „Nichtarier“

Elisabeth Scheiderbauer - Tänzerin und Produzentin

 

Elisabeth (Liese) Scheiderbauer, geborene Pollak, wurde 1936 in eine größtenteils jüdische Familie in Wien geboren. Sie wohnte mit ihren Eltern Dr. Paul Pollak, geb. 1892, und Hertha, geb. 1905, sowie ihrer Schwester Helga, geb. 1929, im Gemeindebau Wien 5, Margaretengürtel 22 (Julius-Ofner-Hof). Eine ihrer frühesten Kindheitserinnerungen betrifft ihre Scharlach-Erkrankung: Sie war allein im Spital und wurde 1943 mit ihrer Schwester Helga (heute: Helga Feldner-Busztin) und ihrer Mutter ins KZ Theresienstadt deportiert. Alle drei überlebten und kehrten nach Wien zurück, wo sie auf den Vater trafen, der im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz inhaftiert gewesen war. Die Familie überlebte die Zeit des Nazi-Regimes wie durch ein Wunder. Elisabeth Scheiderbauer wurde nach dem Krieg professionelle Tänzerin. Sie war am Landestheater Salzburg und an der Volksoper in Wien engagiert. Später arbeitete sie als Buchhalterin und mit ihrem Mann Heinz als Film- und Fernsehproduzentin. Heute ist sie als Zeitzeugin in Schulen tätig.

Zeitzeugen-Interview von "weiter erzählen" mit Elisabeth Scheiderbauer

Helga Feldner-Busztin - Internistin

 

Helga Feldner-Busztin, * 14. Februar 1929 Wien, † 19. Oktober 2024 Wien, Ärztin, Zeitzeugin.

Helga Feldner-Busztin war die Tochter von Hertha und Paul Pollak. Ihr aus Brünn gebürtiger, jüdischstämmiger Vater hatte im Ersten Weltkrieg gekämpft und in Wien Medizin studiert, wo er danach als Lungenfacharzt und Amtsarzt tätig war. Ihre Mutter, eine geborene Pronay, stammte aus einer angesehenen Offiziersfamilie mit einem christlichen Vater und einer jüdischen Mutter, was sie nach jüdischen Gesetzen zur Jüdin machte. Hertha Pollak war allerdings als Kind evangelisch getauft worden und bekannte sich 1931 im Rahmen einer Konversion offiziell zum Judentum. Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer 7 Jahre jüngeren Schwester Elisabeth wuchs Helga Feldner-Busztin in der Margaretenstraße auf.

Nachdem ihr Vater im Oktober 1938 in GESTAPO-Haft kam und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert wurde, waren auch seine Frau und die beiden Töchter Repressalien ausgesetzt. Zwar setzte sich Hertha Pollaks Vater bei SS-Führer Ernst Kaltenbrunner persönlich für seine Tochter und Enkelinnen ein, nichtsdestotrotz konnte Feldner-Busztin irgendwann aufgrund der Verfolgung durch das Nazi-Regime nicht mehr zur Schule gehen. Zudem mussten die Frauen mehrfach umziehen und schließlich, an ihrem 14. Geburtstag, kam die Vorladung zur Deportation. Hertha Pollak schloss sich gemeinsam mit der sechsjährigen Elisabeth ihrer ältesten Tochter an. Eine geplante Flucht der Familie nach Shanghai scheiterte.

Am 1. April 1943 wurde Helga Feldner-Busztin gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Elisabeth ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Während ihre jüngere Schwester zeitweise im sogenannten Kinderheim untergebracht war, mussten sie und ihre Mutter Arbeitsdienst leisten. Einmal durch Zufall, einmal durch das Handeln ihrer Mutter entging sie der Deportation in ein Vernichtungslager. Ihr Vater war zwischenzeitlich in mehreren Lagern inhaftiert gewesen, zuletzt in Auschwitz, konnte allerdings ebenso überleben. Nach der Befreiung der Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz traf sich 1945 die Familie in Wien wieder.

Nach dem Krieg nahm Feldner-Busztin ein Medizinstudium auf und praktizierte bis ins hohe Alter als Internistin. Sie heiratete Hans Feldner-Busztin, der die NS-Zeit durch die Hilfe von Josef Feldner als sogenanntes "U-Boot" in Wien überlebt hatte. Das Paar hatte vier Kinder und zahlreiche Enkelkinder.

Ab den 1990er Jahren sprach Helga Feldner-Busztin als Zeitzeugin an Schulen, leistete Aufklärungsarbeit in Vorträgen und Dokumentationen. 2018 veröffentlichte ihre Enkelin Anna Goldenberg das Buch "Versteckte Jahre", in dem sie über die Geschichte des Ehepaars Feldner-Busztin berichtet. Im selben Jahr wurde Feldner-Busztin mit dem Ute-Bock-Preis für Zivilcourage ausgezeichnet.

Sie verstarb im Oktober 2024 im Alter von 95 Jahren.

Quelle: Wien Geschichte Wiki, 
https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Helga_Feldner-Busztin

Hans Landauer - Spanienkämpfer

 

Hans Landauer, * 19. April 1921 Oberwaltersdorf, † 19. Juli 2014 Oberwaltersdorf, Polizist, Publizist, Spanienkämpfer.

Hans Landauer wurde in eine sozialdemokratische Familie geboren und lernte in einer Weberei. Sein Großvater war bis 1934 Bürgermeister seiner Heimatgemeinde; er selbst engagierte sich schon als Kind bei den Roten Falken und übernahm in der Zeit der Illegalität Botengänge, um in das Land geschmuggelte sozialdemokratische Blätter in Umlauf zu bringen.

Im Juni 1937 riss Landauer von zu Hause aus, um im Spanischen Bürgerkrieg in den Reihen der Internationalen Brigaden zu kämpfen. Er wurde als Melder einer Maschinengewehrkompanie des Österreichischen Bataillons "12. Februar" zugeteilt und im September des Jahres verwundet. Nach Aufenthalt in mehreren Spitälern kam er Anfang 1939 in Katalonien wieder zum Einsatz und floh im Februar 1939 vor den siegreichen Franco-Truppen nach Frankreich. Zunächst mit anderen Spanien-Flüchtlingen in französischen Lagern interniert, wurde der Niederösterreicher nach der Besetzung Frankreichs durch NS-Truppen verhaftet und in das Gefangenenhaus Roßauerlände überstellt. Im Juni 1941 kam Landauer wie Hunderte andere Spanienkämpfer auch in das Konzentrationslager Dachau. In diesem wurde er bis zur Befreiung des Lagers am 29. April 1945 festgehalten und vor allem bei Bauarbeiten eingesetzt.

Nach seiner Rückkehr nach Österreich war Landauer als Polizist in der Sicherheitsdirektion Niederösterreich und später in Wien (Abteilung 18 im Bundesministerium für Inneres) tätig, wo er mit der Aufklärung von NS-Verbrechen befasst war. Auslandseinsätze führten ihn nach Zypern (im Rahmen einer UNO-Friedensmission). Dort deckte er Neonazi-Umtriebe im Österreich-Kontingent auf, wurde von Innenminister Otto Rösch aber prompt zurückbeordert. Nach seiner Rehabilitierung war er als Sicherheitsbeamter an der österreichischen Botschaft in Beirut tätig.

In seiner Pension widmete sich Hans Landauer der Geschichte der über 1.400 österreichischen Spanienkämpfer und arbeitete ehrenamtlich im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) mit. 1991 avancierte er zum Obmann der "Vereinigung österreichischer Freiwilliger in der Spanischen Republik 1936–1939". 2003 gab er zusammen mit Erich Hackl das "Lexikon der österreichischen Spanienkämpfer 1936–1939" heraus, das 2008 einer verbesserten Neuauflage unterzogen wurde. Bereits 2000 hatten beide das "Album Gurs: Ein Fundstück aus dem österreichischen Widerstand" publiziert. Auch im Rahmen von Vorträgen hielt Landauer die Erinnerung an die Kämpfe in Spanien wach.

Dem Spanienkämpfer wurden in den 2000er Jahren mehrere Filmdokumentationen gewidmet, darunter "Der Spanienkämpfer: Hans Landauer – Gegen Faschismus und Vergessen" (2006; Regie: Wolfgang Rest) und "Letzte Hoffnung Spanien. Protokolle einer Odysee" (2006; Regie: Karin Helml/Hermann Peseckas). Landauer starb im Juli 2014 im Alter von 93 Jahren in seiner Heimatgemeinde Oberwaltersdorf.

2020 wurde die städtische Wohnhausanlage Schüttelstraße 71 in Hans-Landauer-Hof umbenannt.

Quelle: Wien Geschichte Wiki,  
https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Hans_Landauer

Lotte Brainin - Widerstandskämpferin

 

Lotte Brainin, * 12. November 1920 Wien, † 16. Dezember 2020 Wien, Sekretärin, WiderstandskämpferinHolocaustüberlebende, Zeitzeugin.

Lotte Brainin wurde in Wien Brigittenau als das jüngste von fünf Kindern des jüdischen Ehepaares Jetti und Maurycy Sontag geboren. Die Kindheit war von Armut geprägt. Ihre Eltern waren zu Beginn des Ersten Weltkriegs aus Galizien über Budapest nach Wien geflüchtet. Die Mutter, eine ausgebildete Schneiderin, ernährte die Familie durch Näharbeiten. Der Vater, zumeist arbeitslos, trug wenig zum Familieneinkommen bei. 1930 ließen sich die Eltern scheiden. Lotte Brainin besuchte die Volksschule in der Karajangasse und anschließend eine Hauptschule. Anders als ihre älteren Geschwister erlernte sie keinen Beruf, sondern arbeitete als Fabrikarbeiterin und später in einem chemischen Labor.

Über ihren Bruder Elias (Elie) kam Lotte Brainin schon früh zu den Roten Falken. Nach den Februarkämpfen 1934 schloss sie sich dem Kommunistischen Jugendverband an und wurde im Alter von 15 Jahren aufgrund illegaler Tätigkeiten erstmals verhaftet. Nach dem so genannten Anschluss im März 1938 war Brainin als Kommunistin und Jüdin doppelt gefährdet. Mit Hilfe von Freunden, die ihr die Reise mitfinanzierten, flüchtete sie via Köln und Aachen nach Belgien. In Brüssel traf sie mit ihren Brüdern und später auch ihrer Mutter zusammen. Als die deutsche Wehrmacht im Mai 1940 in Belgien einmarschierte, trennten sich ihre Wege erneut. Ein Fluchtversuch gemeinsam mit der Mutter ins nordfranzösische Dünkirchen scheiterte und die beiden Frauen mussten in Brüssel bleiben. Dort schloss sich Lotte Brainin einer kommunistischen Widerstandsgruppe, der Österreichischen Freiheitsfront (ÖFF), an. Im Rahmen der sogenannten "Mädelarbeit" oder "Soldatenarbeit" sprach sie deutsche Soldaten an, versuchte sie im antinationalsozialistischen Sinn zu beeinflussen und ließ ihnen in Folge illegale Druckschriften zukommen. Diese Arbeit war mit hohem Risiko verbunden und tatsächlich wurde Lotte Brainin von einem Soldaten verraten und im Juni 1943 festgenommen, verhört und misshandelt. Nach mehreren Monaten in Haft im Brüsseler Gefängnis Saint-Gilles wurde sie im Herbst 1943 im SS-Sammellager in Mechelen interniert und von dort aus im Jänner 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Sie wurde zur Zwangsarbeit in einer Munitionsfabrik verpflichtet und schloss sich dort erneut einer Widerstandsgruppe an, auch fungierte sie als österreichische Repräsentantin in der Internationalen Kampfgruppe Auschwitz. Lotte Brainin überlebte, unter anderem mit Barbara Hirsch, im Jänner 1945 den Todesmarsch von Auschwitz in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück von wo aus ihr Ende April, kurz vor Kriegsende und der Befreiung durch die Rote Armee, die Flucht gelang. Im Juli 1945 kehrte sie nach Wien zurück und musste auch ablehnende Reaktionen auf ihre Rückkehr erfahren. Lotte Brainin und ihre vier Geschwister überlebten die Shoah, nicht jedoch ihre Eltern: Jetti Sontag wurde nach ihrer Ankunft in Auschwitz am 7. April 1944 ermordet. Maurycy Sontag war bereits 1939 in das KZ Buchenwald deportiert worden und dort am 19. Februar 1941 gestorben. Seit 2012 erinnert im Gehsteig vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie in der Liechtensteinstraße ein Stein der Erinnerung an Jetti und Maurycy Sontag sowie an weitere Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses, die Opfer der Shoah geworden sind.

Ein weiterer Erinnerungsort wurde Lotte Brainin gewidmet. Am 20.05.2025 fand die Benennung des Gemeindebaus in der Mehla-Köhler-Gasse 7 statt. Nach Lotte Brainin wurde dieser Gemeindebau in der Seestadt benannt. Die Ehrenrede hielt unter anderem die Schrifstellerin und Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek:

"Lotte hat das Wort "Blutsverwandtschaft" immer gehaßt und, mit ihrem Mann Hugo zusammen, mir die Ehre erwiesen, mich sozusagen zu adoptieren, obwohl diese wacklige Blutsverwandtschaft doch über eine Schwester meines Großvaters zu ihrer Schwester besteht. Aber das war ihr gar nicht wichtig. Sie hat lange zu meinem Leben gehört, und ich bin stolz, eine echte Verbindung zu ihr gehabt zu haben. Man ist ja gern mit Helden verwandt, obwohl man selbst zu diesem Heldentum nichts beitragen konnte und auch nicht bereit dazu wäre, wenn eine Bewährung käme. Da müßte  man sich erst selbst verurteilen, natürlich immer mit Bewährung. Die Zeit hat Menschen wie Lotte Brainin zu Heldinnen geschliffen, geformt, sie beinahe dem Tod zugeführt, der so lange ihr Begleiter war, nach all den Jahren in ärmlichen Verhältnissen, die  diese mittellose jüdische Emigrantenfamilie nach den Pogromen im Osten und nach dem Ersten Weltkrieg in den 20er Jahren nach Wien verschlagen hatte, wo Lotte 1920 geboren wurde, als 5. und jüngstes Kind dieser Zuwandererfamilie. Wie ja überhaupt Zuwanderfamilien Wien mitgeschaffen und geprägt haben. Schon diese Tatsache läßt die extreme Rechte mit ihrem Blut- und Bodenfetischismus lächerlich absurd erscheinen.

Ich weiß nicht, wie ich das hier schreiben soll, nein: kann.

Lotte sagt: "Es war ein langer und qualvoller Weg, der mich von Wien über die Flucht nach Belgien, kurz nach der Besetzung Österreichs durch die Deutschen, bis hierher nach Auschwitz brachte". Allein dieser eine Satz reicht für mindestens hundert Geschichtsbücher.

So spricht eine Widerstandskämpferin gegen Faschismus und Nationalsozialismus, eine der ersten Stunde, die eine Kämpferin als halbes Kind schon geworden war. Jugendfreunde werden geköpft, und sie verkaufen zuvor ihre wenigen Habseligkeiten, damit Lotte sich eine Bahnfahrkarte nach Köln kaufen kann. Dieser Satz zuckt vor Schreck zusammen und will vor sich selbst flüchten. Und dann gings illegal über die Grenze nach Belgien. Ich kann jetzt nicht einmal schreiben: und so weiter und so fort, denn dieses Weiter und dieses Fort führen zu einem auch heute noch unvorstellbaren Grauen. Überall kämpft Lotte Brainin als politischer Flüchtling für Österreich und seine Kultur, seine damals überfahrene, zerstückelte Kultur, die ihre besten Teile ausgespuckt hatte unter dem Tritt von Stiefeln. Sogar Alfred Klahr, den Theoretiker zur nationalen Frage und zur österreichischen Nation, trifft sie in Auschwitz wieder. Sie trifft dort auch Jean Améry und Hermann Langbein. Sie zählt einfach auf, wenn sie erzählt, nein, nicht einfach, sie zählt auf — und das muß sie beim Sprechen gewürgt haben —, wen  sie in Auschwitz wiedergetroffen hat, an diesem toten Punkt der belebten Welt, die belebt nicht bleiben sollte, an dem ihre Mutter vergast wurde, ihr Vater woanders ermordet, einfach so, als wäre es einfach. Wie das Töten damals, war man Jude, Zigeuner (Lotte beschreibt  in einer ihrer stärksten Erinnerungen, wie das bunte Zigeunerlager, in dem Erwachsene und Kinder durcheinandergewuselt waren, über Nacht ausgelöscht worden ist, es war plötzlich: leer. Leer kann vieles sein. Von Menschen gesäubert, das  ist  es, die  Leere selbst), war man Widerstandskämpfer oder Schwuler, mit einer Handbewegung wurde es eingeleitet, das Töten, als wäre das Leben schon der Tod, den die Opfer ja schon davor, im Leben, viele  Male erlitten hatten. Und für die von den neuen Herren erklärte Nichtswürdigkeit stand Ungeziefervertilger bereit, von der deutschen chemischen Industrie, auf die man bis heute stolz ist, zubereitet und immer rechtzeitig zugestellt. Die Viehwaggons, überfrachtet mit Menschen, die als Ungeziefer betrachtet wurden, ob Universitätsprofessor oder Hausierer, Hausfrau oder Studentin, sie wurden selektiert und, je nach Laune Mengeles und seiner medizinischen Kumpane, verurteilt. Lotte ist es vorgekommen wie ein Zufall, daß sie leben durfte, und es war auch einer. Ein Finger zeigt zufällig in die eine oder die andre Richtung, und Menschen wurden verteilt oder ausgelöscht, je nach Lust und Laune der selbsternannten Herren.

Das ist oft beschrieben worden, und dennoch: Verstehen kann ich es nicht. Das hier sind nur Worte. Ein paar davon möchte ich auf eine Tat verwenden, die mir noch unbegreiflicher ist als dieses ständige Schweben zwischen Leben und Tod, das von reiner Willkür verhängt wurde: Die Frauen in Auschwitz bereiteten, mittels genialer logistischer Schachzüge, einen Aufstand vor, der, gemeinsam mit den Partisanen draußen, die Befreiung organisieren sollte. Gegenstände wurden ins Lager geschmuggelt, die Hoffnung auf Freiheit gaben, die man letztlich doch nie erlangen konnte. In unzähligen selbstlosen Handlungen, zu denen die Menschen meist nicht einmal in Friedenszeiten bereit sind, wurden Kontakte geknüpft, Dinge organisiert, und schließlich, es ist unbegreiflich, sogar die Sprengung eines Krematoriums in Birkenau durch die Häftlinge eines Sonderkommandos bewirkt. Damit fand die Ermordung der Häftlinge in den Gaskammern ein Ende. Ermöglicht wurde das durch die Sabotage-Handlungen von ein paar tapferen Mädchen in der  Munitionsfabrik,  eins  davon Lotte Brainin. Vier Mädchen gingen zum Galgen, alle anderen mußten dabei zusehen.

Wenige Tage später wurden die Häftlinge zusammengetrieben. Da näherte sich schon die Sowjetarmee. Es sollte keine lebenden Zeugen geben, die von dem Grauen hätten berichten können. Die Häftlinge wurden ihres Wegs getrieben wie Herdenvieh,  alle, die nicht mehr weitergehen konnten, wurden sofort erschossen. Das Land ist  immer noch getränkt von ihren Schritten ins Nichts, es wird nur wenig davon gesprochen, und dieses Nichts hat sich lange auch über das Sprechen gelegt wie eine Decke, die  das Leben ein weiteres Mal und immer wieder unter sich erstickt hat.

Der Todesmarsch, einer von vielen, der für Lotte und die übrigen Überlebenden dann in einem offenen Viehwaggon ins Frauenlager Ravensbrück führen sollte, legte eine blutige Spur an den Wegesrand. Die Schritte von Menschen, von denen die meisten nicht einmal Schuhe besaßen, sie  sind auch uns eingeschrieben,  eingraviert, ob  wir wollen oder nicht: Ohne Verpflegung zogen diese Kolonnen dahin, von einem Todesort in den nächsten, und dazwischen auch fast nichts als Tod. Diese Straßen müßten auch heute noch jeden Tritt von Menschen abschütteln, denn sie  haben genug getragen, die Straßen: lebende Tote. Nicht einmal die Erde sollte so etwas aushalten müssen. Bei der Evakuierung von Ravensbrück konnte Lotte schließlich mit einer Freundin flüchten (das schreibt sich so leicht, alles schreibt sich so leicht, aber Menschen wie sie haben es erlebt, die Worte hier  können nicht flüchten, weil sie nichts bedeuten als alles, was wahr ist und man es wissen muß). Die beiden, zwei von so vielen, wurden schließlich von der Roten Armee gerettet.

Mir fällt dazu ein Gedicht von Stefan Zweig ein, der, heimatlos, sich in der Fremde selbst ausgelöscht hatte, auch er einer auf einer fremden Straße ohne Haus und Heim:

"Den hellen Straßen geh ich nach/ wie Staub, der nach den Rädern rennt,/ gern rastend unter einem Dach,/ wo nicht ein Herz das meine kennt."

Dieses Gedicht ist noch in seiner Verzweiflung und Leere ein Idyll, vergleicht man es mit alldem, was Menschen wie Lotte und ihre GefährtInnen ertragen mußten, als sie sich über die Straßen schleppten, ohne ein Dach, das sie zum Rasten beschützt hätte. Überall in Österreich haben die Tritte der Opfer, die wie Tiere (aber Tiere haben immerhin meist einen Wert!) auf Todesmärsche getrieben wurden, nur Staub aufgewirbelt, das ist  das Gegenteil von großen Taten, welche Staub aufwirbeln können, daß Menschen aufmerken und es sich merken. Aber es gab kein Haus und kein Rasten für Lotte und all die anderen.

Doch jetzt eine andre Zeit, eine andre Straße, ein andres Haus, ein helles, das auch hell und schön bleiben soll für alle, die drin wohnen und die Straße soll den Füßen leicht sein und die Füße ihr, so soll es sein. Amen."

Anders als ihre vier Geschwister, die nach dem Krieg in die USA emigrierten, kehrte Lotte Brainin als einzige aus ihrer Familie dauerhaft nach Wien zurück und engagierte sich hier ein Leben lang wider das Vergessen. Sie sagte 1947 im Hamburger Ravensbrück-Prozess aus, war Gründungsmitglied der Lagergemeinschaft Ravensbrück sowie der Lagergemeinschaft Auschwitz und war viele Jahrzehnte lang im Bundesverband österreichischer AntifaschistInnen, WiderstandkämpferInnen und Opfer des Faschismus ("KZ-Verband") aktiv. Sie engagierte sich unter anderem stark dafür, auch Frauen nachfolgender Generationen für die Arbeit der Österreichischen Lagergemeinschaft zu begeistern und in diese zu integrieren. Lotte Brainin arbeitete als Sekretärin in der Redaktion der "Volksstimme". 1968 brach sie mit der KPÖ, bis dahin hatte sie sich auch in der Bezirksorganisation der KPÖ Wieden engagiert. Ab 1948 war sie mit Hugo Brainin verheiratet, mit dem sie zwei Töchter hatte. Bis ins hohe Lebensalter trat Lotte Brainin als engagierte Zeitzeugin in Schulen und bei Veranstaltungen auf. Lotte Brainin starb wenige Wochen nach ihrem 100. Geburtstag in Wien.

Das Leben und Wirken Lotte Brainins ist gut dokumentiert und für die Nachwelt festgehalten. 2009 gestaltete Bernadette Dewald als Teil der Videoedition VISIBLE das Filmporträt "Lotte Brainin: Leben mit Eigenwillen und Mut". Dabei handelt es sich um ein filmisches Portrait anhand von Interviews aus dem Jahr 1999 und Gesprächen von 2008 mit Lotte Brainin und ihrem Enkelsohn Jakob Puchinger. Die Filmkünstlerin und Theaterregisseurin Tina Leisch gestaltete in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Lagergemeinschaft Ravensbrück und FreundInnen und dem KZ-Verband auf Radio Dispositiv das Feature "Ich habe nur getan, was ich für richtig hielt". In Form von Interviews und eingesprochener Texte sprechen darin Lotte Brainin und Weggefährt*innen über ihre Erinnerungen. Anlässlich Brainins 100. Geburtstags fand ein Festakt statt, der aufgrund der Covid19-Pandemie virtuell abgehalten werden musste. Zu diesem Jubiläum gestaltete die Künstlerin Marika Schmiedt eine virtuelle Ausstellung über Lotte Brainin und errichtete ihr damit ein digitales Denkmal.

In Wien erinnern die Lotte-Brainin-Straße und der Lotte-Brainin-Hof in der Mela-Köhler-Straße 7 an die Widerstandskämpferin und Zeitzeugin.

 

Quelle: Wien Geschichte Wiki
https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Lotte_Brainin