Die Vertreibung aus dem Gemeindebau
Schon wenige Wochen nach dem „Anschluss“ Österreichs ans Deutsche Reich im März 1938 wurde den jüdischen Mieter*innen von Gemeindewohnungen gekündigt: Am 14. Juni 1938 erteilte der Wiener NS-Vizebürgermeister Thomas Kozich den Auftrag, dazu. Den gekündigten Mieter*innen sollten Ersatzwohnungen in der Barackensiedlung Hasenleitengasse angeboten werden.
Lücke im Mietrecht ermöglicht Massenkündigungen
Zur raschen Abwicklung der Kündigungsverfahren machte sich die NS-Bürokratie eine Lücke im Mietrecht zunutze: Der gesetzliche Mieterschutz war bei der NS-Machtübernahme für jüdische Mieter*innen zwar noch gültig, galt aber nur für Wohnungen, die vor 1917 errichtet worden waren. Diese Gesetzeslücke wurde den jüdischen Mieter*innen von Gemeindebauwohnungen zum Verhängnis, denn diese waren erst später gebaut worden ("100 Jahre Gemeindebau“).
Mieter*innen im Gemeindebau konnten somit ohne Angabe von Gründen gekündigt werden. Allerdings gab es Entwürfe zu Kündigungsschreiben, aus denen die rassischen Gründe klar hervorgingen. Um den jüdischen Hintergrund der Mieter*innen zu erfassen, dürfte man sich der Listen für die Volksabstimmung im April 1938 bedient haben, denn von dieser waren Jüdinnen und Juden ausgeschlossen.
Ungefähr 2.000 Kündigungen mit dem einheitlichen Kündigungstermin 31. Juli 1938 wurden den Bezirksgerichten innerhalb kürzester Zeit zugestellt. Mit einem Schreiben der Magistratsabteilung 21 vom 30. Juni 1938 wurde außerdem die „Sicherstellung“ des Mobiliars der gekündigten Mieter*innen geregelt. Auch der Raub der Einrichtung der Mieter*innen war damit durch die Bürokratie organisiert. Bis Mitte September 1938 waren auf diese Weise bereits 1.225 Wohnungen „freigemacht“ worden.
Später wurde das Vorgehen noch weiter verschärft: Genauere Untersuchungen der „Rassenzugehörigkeit“ der Mieter*innen sowie Denunziationen führten zu weiteren Kündigungen.
Die jüdischen Mieter*innen im Gemeindebau entsprachen keineswegs dem Klischee des „reichen Juden“ - im Gegenteil, sie waren einfache Leute: Strassen- oder Eisenbahner, Kleinstgewerbetreibende, Handwerker oder Greissler. Für letztgenannte und die jüdischen Ärzt*innen, die ihre Ordinationen in Gemeindebauten eingerichtet hatten, ging mit der Kündigung auch der Verlust der Arbeit einher. Sie wurden ihrer Existenzgrundlage beraubt.
siehe Herbert Exenberger, Johann Koss, Brigitte Ungar-Klein: "Kündigungsgrund Nichtarier: Die Vertreibung jüdischer Mieter aus den Wiener Gemeindebauten in den Jahren 1938-1939", Wien Picus 1996